Wie Keith Jarrett 1973 in seinem Begleittext zu "Solo Concerts: Bremen Lausanne" schrieb, dokumentiert dieses Dreifach-Album Momentaufnahmen "eines Künstlers, der auf spontane Weise etwas erschafft, das von der Atmosphäre, dem Publikum, dem Ort (sowohl dem Raum als auch der geografischen Lage) und dem Instrument bestimmt wird; all dies wird bewusst durch den Künstler kanalisiert, sodass die Bemühungen aller gleichermaßen belohnt werden, obwohl der Erfolg oder Misserfolg vollständig dem Künstler selbst gehört. Der Künstler ist für jede Sekunde verantwortlich." Die Box, die nun als Teil der gefeierten "Luminessence"-Vinyl-Reihe von ECM in einer Faksimile-Edition wiederveröffentlicht wird, enthält zwei über einstündige Mitschnitte der beiden Solokonzerte, die der Pianist im März und Juli 1973 in Lausanne respektive Bremen gegeben hatte. Die Aufnahmen bildeten den Auftakt zu Jarretts einzigartiger Solo-Odyssee, die sich über mehr als vier Jahrzehnte erstrecken und insgesamt achtzehn Live-Alben (viele davon Mehrfach-Alben) von seinen Solokonzerten hervorbringen sollte. Bis heute haben diese Aufnahmen, bei denen Jarrett mit seinen fantasievollen und epischen Solo-Improvisationen ad hoc Musikgeschichte schrieb, nichts von ihrer ursprünglichen Faszinationskraft eingebüßt.
Als "Solo Concerts: Bremen Lausanne" vor fünfzig Jahren zum ersten Mal erschien, war die Begeisterung von Musikfans und Kritikern in aller Welt schier überwältigend. Das Album wurde mit Auszeichnungen überschüttet und im Time Magazine, in der New York Times, in Down Beat und Stereo Review in den USA, im Jazz Forum in Polen und im Swing Journal in Japan als Album des Jahres gefeiert. In Deutschland wurde es mit dem Großen Deutschen Schallplattenpreis ausgezeichnet. Wie hoch es auch heute noch bei Musikhörer(inne)n im Kurs steht, zeigt sich erst kürzlich bei einer Umfrage des britischen Mojo-Magazins zu Jarretts Gesamtwerk, bei der die Leser/innen "Solo Concerts: Bremen Lausanne" auf Platz 1 wählten. "Dies ist das Nonplusultra des Jarrett-Solo-Livekonzerts in all seiner improvisatorischen Pracht", merkte die Redaktion an. Und in einer ausführlichen Rezension, die im August 2023 bei Pitchfork erschien, bezeichnete Mark Richardson das Album als ein "karrierebestimmendes Jazz-Meisterwerk" und schrieb, dass die "strukturelle Kohärenz dieser langen Improvisationen über zwei einstündige Sets hinweg erstaunlich ist".
ECM New Series hat ein neues Album des US-amerikanischen Pianisten Keith Jarrett veröffentlicht. Auf dem Programm stehen die "Württembergischen Sonaten" von C.P.E. Bach, ein in die Zukunft vorausweisender Klavierzyklus.
Keith Jarrett hat sich klassischem Repertoire stets mit besonderer Zurückhaltung genähert. Der exaltierte Jazz-Improvisator, bekannt für seine virtuose Art, das Klavier als Ausdrucksmittel spontaner Empfindungen in Gebrauch zu nehmen, ist Komponisten wie Bach, Händel oder Mozart immer eher aufmerksam nachspürend, verstehend gefolgt. Seine Bach-Aufnahmen etwa zeichnen sich durch eine poetisch-fließende Manier aus, still, unaufgeregt, mit wenigen lässigen Gesten, aber spürbarer Lust an harmonischer Delikatesse.
Aber auch bei anderen Komponisten verwandte der Pianist viel Sorgfalt darauf, ihrer jeweiligen Klangsprache gerecht zu werden. Diese Qualität zeichnet auch die kostbare Archivalie aus, die ECM New Series soeben gehoben und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat: Jarretts farbenreiche, zwischen frenetischer Entfesselung und sanftmütiger Poesie changierende Aufnahme der "Württembergischen Sonaten" (1742/43) von Carl Philipp Emanuel Bach.
Jahre mit Bach
Die Aufnahme stammt von 1994. Sie fällt in eine Zeit, in der Jarrett mit Bach, Händel und Schostakowitsch große Komponisten Europas ins Zentrum seines Schaffens rückt. Sein Hauptaugenmerk gilt dabei J.S. Bach. 1988 präsentiert er bei ECM seine vielbeachtete Aufnahme des ersten Teils von Bachs "Wohltemperiertem Clavier". 1989 erscheint seine Interpretation der Goldberg-Variationen. 1991 folgt der zweite Teil des "Wohltemperierten Claviers" und eine mit Kim Kashkashian und ihm selbst am Cembalo verwirklichte Einspielung der drei Gambensonaten, bevor er 1993 mit den Französischen Suiten einen vorläufigen Schlusspunkt hinter seine intensive Auseinandersetzung mit dem Thomaskantor setzt.
Ein Jahr später sitzt er im heimischen Cavelight Studio in Oxford/New Jersey am Flügel und widmet sich C.P.E. Bach, dem zweitältesten Bach-Sohn und größten Vorbild Mozarts. Die Musik des experimentierfreudigen Tonschöpfers, der die strengen Formen seines Vaters zwar nicht verwirft, aber doch deutlich auflockert, ist, wie man jetzt, knapp dreißig Jahre nach Jarretts Aufnahme erfahren darf, ganz nach dem Geschmack des großen Jazz- und Klassikpianisten.
Schule der Empfindsamkeit
Die plötzlichen Tempowechsel, die harmonische Kühnheit und der deklamatorische Stil von C.P.E. Bach kommen Jarretts agilem Temperament deutlich entgegen. Wie der Hamburger bzw. Berliner Bach, der am Hof Friedrichs des Großen Karriere machte, weiß Jarrett, was es heißt, seine Emotionen in die Musik zu legen und den oft unkontrollierbaren, plötzlichen Wendungen des Seelenlebens Ausdruck zu verleihen. Am schillerndsten zeigt sich dies im hochgespannten ersten Satz der sechsten Sonate (H. 36), den Jarrett ebenso entfesselt wie klar strukturiert vorträgt.
In den langsamen Mittelsätzen der Sonaten bewährt sich Jarretts legendäre Fähigkeit, sich melancholischen oder verträumten Stimmungen hinzugeben. Insgesamt besticht seine Interpretation der Württembergischen Sonaten durch Jarretts souveräne Integration leidenschaftlicher Impulsivität, empfindsamen Ausdrucks und harmonischer Transparenz. Damit darf diese Aufnahme als ein weiterer wesentlicher Baustein in Jarretts vielgestaltiger Diskografie gelten.
Mit seinem sogenannten "Standards"-Trio (mit Gary Peacock und Jack DeJohnette) hatte der Pianist Keith Jarrett 1983 ein neues aufregendes Kapitel in seiner Karriere aufgeschlagen. Binnen weniger Jahre spielte er mit dieser Formation (die schließlich erstaunliche 30 Jahre Bestand haben sollte) eine Reihe von Alben ein, die gänzlich neue Maßstäbe für das Interpretieren von Jazzstandards, aber auch für das Improvisieren im klassischen Klavier-Trio-Format setzen. Im Sommer 1986 befand sich der Pianist mit seinen beiden Spielpartnern gerade auf einer ausgedehnten Festival-Tournee durch Europa, als er am 14. Juli einen freien Tag zwischen zwei Konzerten nutzte, um im Tonstudio Bauer in Ludwigsburg ein besonders ausgefallenes Projekt anzugehen. Für das Doppelalbum "Book Of Ways" spielte Jarrett 19 vollkommen improvisierte Stücke auf drei Clavichorden ein. Die klangliche und rhythmische Vielfalt, die er - abwechselnd auf einem oder gleichzeitig zwei Instrumenten spielend - dabei bot, war schlichtweg beeindruckend. Neben unverkennbaren Anklängen an Lautenmusik und die japanische Koto kam die ganze Bandbreite der Ausdrucksmöglichkeiten des Clavichords zur Geltung. Für die jetzt erscheinende Neuauflage wurden die Improvisationen ohne Änderung der Reihenfolge angepasst. Als das Doppelalbum 1987 erstmals erschien, schwärmte das Magazin Spin: "Jarrett ist es gelungen, mit all seiner gewohnten Innerlichkeit und dennoch mit paradoxerweise größerer Objektivität und Kraft zu spielen; die Musik, so einfühlsam und schön sie auch gespielt sein mag, geht einen frontal an, besteht darauf, dass man ihr zuhört, verlangt eine Entsprechung der eigenen physischen Existenz, schaut einem direkt in die Augen..."
"Meines Wissens ist diese Aufnahme in mehrfacher Hinsicht einzigartig", schrieb der Pianist 2002 in den Liner Notes für die von ihm zusammengestellte ECM-Compilation "Keith Jarrett - Selected Recordings", die er überraschend mit drei Stücken von "Book Of Ways" eröffnet hatte. "Wir hatten drei Clavichorde im Studio, von denen zwei in einem solchen Winkel zueinander standen, dass ich sie gleichzeitig spielen konnte, und das dritte stand etwas abseits. Außerdem haben wir die Instrumente mit sehr nah platzierten Mikrofonen abgenommen, damit die gesamte Bandbreite der Dynamik genutzt werden konnte (Clavichorde sind sehr leise und können nur bis zu einer Entfernung von ein paar Metern gehört werden). Die beiden CDs wurden an einem freien Tag zwischen den Konzerten mit meinem Trio aufgenommen, und es wurde kein Material im Voraus organisiert. Alles war spontan. Die Aufnahme wurde in vier Stunden unter Dach und Fach gebracht."
In einem Interview mit dem Magazin Piano & Keyboard verriet Keith Jarrett 1997: "Ich denke, 'Book Of Ways' ist eine der Aufnahmen, von denen ich mir wünsche, dass mehr Leute sie kennen. Ich glaube, sie enthält mehr von dem, was ich höre, als viele Sachen, die ich auf dem Klavier mache, denn das Klavier ist das Klavier." Mit dieser wunderbaren Neuauflage kann man dieses einzigartige Projekt nun neu entdecken.